Bei den Wahlen in nahezu allen europäischen Ländern eilen die sozialdemokratischen Parteien von Niederlage zu Niederlage, zuletzt in Frankreich, den Niederlanden, Spanien, zuvor schon in Griechenland, Österreich und Schweden. Auch wenn es in den beiden letztgenannten Ländern gerade mal für eine Regierungsführung gereicht hat, konnte nirgendwo mehr an die glanzvollen Zeiten früherer Jahrzehnte angeknüpft werden.
Beim Blick auf die Ursachen gibt es – über alle Besonderheiten hinweg – ein und dieselbe Entwicklung: Alle Sozialdemokratien haben ihre Traditionswählerschaft, gefasst im Begriff „Arbeitnehmer“ verloren. Sie werden noch gestützt von einem diffusen Bündnis aus Rentnern, bessergestellten Angestellten und Staatsbediensteten, modernen Aufsteigern und Bildungsbürgern und – meist großstädtischen - JungwählerInnen. Diese Wählerschaft ist ebenso disparat wie die programmatischen Botschaften und das politische Führungspersonal.
Ob in Österreich 80% der „Arbeiter“ den rechtsextremen Hofer, in Frankreich ein großer Teil der ärmeren Bevölkerungsmehrheit Marine Le Pen gewählt haben, die Mehrheit der Arbeiter und Abgehängten Großbritanniens für den Brexit gestimmt und in Polen die PiS gewählt haben: Die Meinungsführerschaft in weiten Teilen der Nicht-Eliten ist zu den Autokraten, Rassisten und Nationalisten gewandert. Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich unterschied sich das Wahlverhalten – anders als bei uns oft dargestellt – weniger nach Stadt und Land – als schlicht nach dem Einkommen: Le Pen hatte bei den schlecht Verdienenden rund doppelt so hohe Stimmenanteile wie Macron (Einkommen bis 1.250 € 14:32%, bis 2000 € 18:29%), während es sich bei den Besserverdienenden genau umgekehrt verhält (ab 3000 € 32:15%). Bezeichnenderweise verschleiert die Süddeutsche Zeitung diesen Sachverhalt mit der Überschrift: „Je gebildeter, desto eher Macron-Wähler“ (SZ 24.4.17).
Die unangenehmen Wahrheiten bilden sich seit über 10 Jahren auch in Deutschland ab. Im Kampf um die Mitte wurde in der SPD teils bewusst, teils unbewusst hingenommen, dass es einen sich verfestigenden Zusammenhang zwischen Einkommen (und Alter) und Wahlbeteiligung gab: Je geringer das Durchschnittseinkommen und je prekärer die Lebens- und Arbeitsverhältnisse, desto geringer die Wahlbeteiligung. Auch diese Korrelation galt gleichermaßen für Stadt und Land. Sie ging mittlerweile von der Nicht-Wahlbeteiligung zur Wahl der AfD über. Letztes klassisches Beispiel war die Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Hier verlor die SPD bei den „Arbeitern“ mehr als die Hälfte ihrer Stimmenanteile (32% minus 17% gleich 15%), während die AfD von Null auf 28% Anteil kam, also in etwa das Niveau, das die SPD noch bei der letzten, auch nicht gerade glänzenden, Wahl hatte. Der Rest dürfte bei der Linkspartei gelandet sein. Tendenziell in die gleiche Richtung war es vorher in Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern gegangen.
Nun mag es manchen „modernen“ Parteistrategen egal sein, ob die SPD ihre Kernwählerschaft verliert oder nicht, weil sie sowieso von einer Entkernung von Wählermilieus ausgehen, quasi naturgesetzlich oder pseudosoziologisch. Was aber in einer Parteiführung nicht egal sein kann ist die Tatsache, dass die SPD auf diesem Weg in einer ersten Phase in die strukturelle Defensive gerät, nicht mehr ansatzweise auch nur die Chance zu haben, bundesweit stärkste Partei zu sein (nämlich wenn große Teile der „Abgehängten“ entweder nicht oder AfD wählen), sondern auch, dass sie das Schicksal der griechischen, niederländischen und französischen GenossInnen erleidet, und zwischen dem neoliberalen Block der Besitzenden und Gewinner, und dem nationalistischen Block zerrieben wird. Eine solche Sozialdemokratie hat sich vor lauter programmatischer Beliebigkeit und Vernachlässigung ökonomischer und sozialer Kompetenz selbst überflüssig gemacht, weil, wie zuletzt in den Niederlanden und Frankreich der neue Rechtsextremismus (wie der Faschismus) die soziale Agenda übernommen hat und die Hoffnungen der Abgehängten und Geängstigten auf sich zieht. Das führt am Ende dazu, dass plötzlich die Neoliberalen van der Bellen, Rutte, Macron und Renzi als die letztverbliebenen Hoffnungsträger und einzigen Alternativen zum Rechtsextremismus avancieren.
Dabei stellt deren Politikansatz, gleich ob in seiner sozialliberalen oder rechtsliberalen Variante, nicht die Alternative, sondern die Ursache für den wachsenden Rechtsextremismus dar. Anders als vielfach rezitiert, hat der Neoliberalismus und das herrschende Globalisierungsmodell nicht mit irgendwelchen „Gefühlen“ von Angst, Ungerechtigkeit und Abgehängtsein zu kämpfen, sondern mit ganz realen Auswirkungen der eigenen Politik. Es ist an dieser Stelle unmöglich, all die Fundstellen wie den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, die Studien der OECD, des IAB, des DIW, selbst der Bertelsmann-Stiftung, das SOEP (sozio-ökonomische Panel) und viele andere zu zitieren. Das Ergebnis ist überall gleich: Das abnehmende, aber immer noch vorhandene Wirtschaftswachstum (zumeist interpretiert als Erfolg der Globalisierung) kommt einer immer geringeren Zahl von Menschen zugute und gefährdet gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen. Auch in Europa und in Deutschland nimmt die Ungleichheit zwischen der Mehrheit der arbeitenden Menschen und den Besitzenden zu, ebenso zwischen den Regionen und Geschlechtern. In Deutschland hat zwar dank der Erfolge sozialdemokratischer Politik in den drei letzten Jahren dieser Prozess gebremst werden können, aber den Gesamttrend nicht gebrochen. Die unteren 40% der Einkommensbeziehenden haben an Realeinkommen eingebüßt, die schmale Mitte konnte sich gerade halten und die Spitzeneinkommen sind geradezu explodiert (z.B. die Managervergütungen). Trotz Mindestlohn (eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft) frisst sich die Armut in die Arbeitseinkommen. Galt es 2005 noch als Binsenweisheit, dass die Massenarbeitslosigkeit die Hauptursache für Armut darstellt, so sehen wir heute, dass trotz Beschäftigungsrekord und Halbierung der Arbeitslosigkeit die Armutsquote noch angestiegen ist (von 14,7 auf 15,3%). Zynisch könnte man sagen: Millionen von ArbeitnehmerInnen dürfen heute für ihre Armut hart arbeiten.
Das „Gefühl“ von Ungerechtigkeit und die Ängste gehen in der Bevölkerung weit über die Armen selbst hinaus. Bis weit in die sogenannte Mitte nimmt man nicht nur die schamlose Bereicherung und Absonderung der „Eliten“ wahr, sondern erlebt im Alltag die Schließung von Krankhäusern und lange Wartezeiten bei ärztlicher Behandlung, den Rückzug von Post, Lebensmittelladen, Bankfiliale, nicht-funktionierende Verwaltungen, Defizite bei öffentlichen Verkehrsmitteln, Polizei, Breitbandanschlüssen, überlastete Verkehrswege, Wohnungsmangel und Abstiegs- und Verlustängste in der Arbeitswelt. Je mehr den Menschen Botschaften über angeblich unabänderliche Megatrends wie Demografie, Globalisierung und Digitalisierung eingeblasen werden, desto mehr Zukunftsangst entsteht. Ausgerechnet ein sozialdemokratischer Bundeskanzler hat den politischen Gestaltungsverzicht erklärt: „Wer sich nicht anpasst, wird angepasst“. Ohnmacht aus höchstem Munde – mehr als ein Gefühl.
Muss man sich wundern, wenn das Mantra von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit als Totschlagargument für längere und intensivere Arbeit, für Abbau sozialer Leistungen, für Privatisierung und Liberalisierung, für Lohnsenkung oder vornehmer „Lohnzurückhaltung“, also für eine Anpassung an das neoliberale Globalisierungsmodell, sich irgendwann gegen diese Globalisierung wendet? Und wenn es sich politisch gegen all die Parteien wendet, mit denen diese Globalisierungsmodell in Verbindung gebracht wird? Und: Ist es ein Wunder, wenn Flucht, Vertreibung und Migration als wesentlicher Teil dieser Globalisierung gesehen werden?
Jedenfalls ist das Predigen von offenen Märkten und offenen Grenzen an sich keine Antwort auf diese Ängste und realen Probleme. Ebenso wenig wie das Durchboxen der alten Freihandelspolitik mit all den jetzt im Gefolge von CETA geplanten Abkommen mit Japan, Indien, einigen Südamerikanischen Staaten, den EPAs (“Entwicklungspartnerschaften“) mit afrikanischen Regionen eine Antwort sind.
In dieser komplizierten Gemengelage war es kein Zufall, dass genau zu dem Zeitpunkt der Ausrufung der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz, dem Szenenwechsel zu dem Motto „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ und der Veröffentlichung eines Positionspapiers mit dem Titel „Qualifizierung stärken, Versicherungsschutz verbessern: Die Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ die Umfragewerte der SPD um fast zehn Prozent nach oben schnellten. Auch die erste Präsentation des Papiers, vorab schon den Medien als Korrektur der Agenda 2010 angekündigt, auf einer AfA-Betriebs-und Personalrätekonferenz in Bielefeld, fügte sich bewusst in das Bild des Zugehens auf die Arbeitnehmerschaft ein. Dies bedeutet einen klaren Hinweis darauf, dass sozialdemokratische Gerechtigkeitspolitik nicht nur von den Gewerkschaften und weiten Teilen der SPD-Basis sehnsüchtig erwartet worden war, sondern auch Mehrheitsperspektiven für die SPD bei der Bundestagswahl eröffnete.
Dass sich solch ein Stimmungswechsel nicht beliebig selbst verlängert, musste allen klar sein, zumal die Gegenoffensive der konservativen und neoliberalen Medien und Parteien nicht lange auf sich warten ließ. Dennoch irren sich alle, die den Schulz-Effekt jetzt schon wieder als verpufft sehen wollen.
Arbeit ist nicht nur das halbe Leben, sondern sie entscheidet über Einkommen, Selbstbewusstsein und Lebenschancen der einzelnen Menschen und der ganzen Gesellschaft. Gleichzeitig ist das Arbeitsleben die größte Blackbox der herrschenden Politik. Dies können sich alle Parteien aufgrund ihres Selbstverständnisses leisten – mit einer Ausnahme: Für die Sozialdemokratie ist das Thema „Arbeit“ existenziell.
Zunächst geht es dabei um die Kenntnisnahme des Zustands und der Wandlungstendenzen von Wirtschaft und Arbeit. Dazu fällt mittlerweile fast allen sofort die „Digitalisierung“ ein. Ohne dies hier im Einzelnen beleuchten zu können, fällt zunächst auf, dass selbst unter ExpertInnen weit auseinanderlaufende Analysen und Zukunftshypothesen kursieren, denen ich hier keine weitere hinzufügen will. Vielfach dominieren technikzentrierte, sachzwanghafte und industriefixierte Sichtweisen. Oftmals ist auch unbekannt, wie weit Digitalisierung schon vorangeschritten ist. Ein Gestaltungsansatz, der auch verschiedene Optionen aufzeigt, fehlt meistens.
Zudem wird übersehen, dass es weitere ökonomische Triebkräfte gibt, die teilweise unabhängig, teilweise verschränkt mit der Digitalisierung, die Arbeitswelt massiv verändern. Verbunden mit neuen Eigentümerstrukturen und Managementkonzepten werden Unternehmen aller Art den Wirkungsweisen der Finanzmärkte unterworfen: kurzfristiges Renditekalkül, permanente Umstrukturierungen, Rezepte der Beraterindustrie, organisierte Entpersonalisierung und organisierte Verantwortungslosigkeit in den Führungsebenen, Herausholen der letzten Renditesteigerung durch Kostensenkung, fehlende Investitionen in langfristige Projekte.
Im Gefolge dessen entstehen immer längere und komplexere globale Wertschöpfungsketten, werden Produktions- und Dienstleistungssysteme entflochten und wieder neu verflochten, Betriebsabläufe in immer mehr Einzelschritte zergliedert.
Die Grenzen zwischen Produktion und Dienstleistung, zwischen „Industrie“ und Logistik, zwischen Vorleistung, Produkt und Vermarktung verschwimmen immer mehr. Im Zuge dessen und im Zuge der unternehmerischen Strategie des Outsourcing nimmt der Anteil der Dienstleistungen an der Wertschöpfung zu. Vieles, was früher im Produktionsablauf im gleichen Betrieb erledigt wurde, findet nunmehr außerhalb statt, als Dienst- und Werkvertrag, als zugekaufte Leistung oder in neuen Betriebsformen.
Dass dies tarif- und betriebspolitische Gewerkschaftsarbeit oder auch staatliche Kontrolle hinsichtlich Steuern und Einhaltung von Schutzvorschriften nicht gerade erleichtert dürfte auf der Hand liegen. Inzwischen befinden sich nur noch eine Minderheit der Beschäftigten im Schutzbereich eines Flächentarifvertrages (49%) und eines Betriebsrates (42%).
Managementkonzepte verstärken gezielt diesen Trend: Umstrukturierungen und OT-Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden werden genutzt, um aus Tarifverträgen zu fliehen. Ganze Anwaltskanzleien haben sich auf „Union Busting“ spezialisiert um ihren Auftraggebern Tarifbindung, Gewerkschaften und Betriebsräte vom Hals zu halten.
Dass politische Rahmensetzungen dieses Szenario durchaus beeinflussen, zeigen die Arbeitsmarktreformen der ersten Jahre des neuen Jahrtausends, die schon mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz Helmut Kohls (und Norbert Blüms!) von 1996 einen würdigen Auftakt gefunden hatten. Sachgrundlose Befristung, Leiharbeit, sanktionsbewehrte Pflicht zur Annahme jeder Arbeit durch Hartz IV, massive Abstiegsdrohung durch Hartz IV, Deregulierung und Ausweitung des Minijob-Sektors, Druck auf die Gewerkschaften zu Tariföffnungsklauseln sind nur einige Stichworte.
Zunächst müssen wir also den 2013 begonnenen Weg der neuen Ordnung auf dem Arbeitsmarkt konsequent fortsetzen: Den Mindestlohn ohne jede Ausnahme armutssicher gestalten, also so, dass es nach 45 Jahren Mindestlohn für eine Rente ohne Grundsicherung reicht, Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, Leiharbeit zu gleichen Bedingungen ab dem ersten Tag, kontrollierbare Kriterien für Werkverträge, Neukonzipierung der Arbeitsmarktpolitik mit den Vorschlägen von Martin Schulz für längeres ALG I mit Recht auf Qualifizierung, deutliche Entschärfung von Hartz IV (Vermögensfreibetrag, angemessene Bedarfssätze, neue Zumutbarkeitsregeln, Sanktionsregime umgestalten, Stufenregelung beim Übergang von ALG I auf ALG II), Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung als Arbeitsversicherung …
Wer von den Arbeitenden und den Betrieben Flexibilität verlangt, muss starke Sicherungselemente einbauen. Gleichzeitig muss der Staat seine Kontrollinstrumente zur Einhaltung der gesetzlichen und tariflichen Regelungen zumindest in den betriebsrats- und gewerkschaftsfreien Zonen ausbauen und schärfen, sowie den Gewerkschaften ein Verbandsklagerecht einräumen und Sanktionen bei Verstößen verschärfen. Rechtsfreie Räume darf es auch im Arbeitsleben nicht geben.
Schließlich gilt es die Reichweite und verpflichtende Bindungswirkung von Tarifverträgen wieder zu erhöhen. Der DGB hat hierzu einen Forderungskatalog vorgelegt, der Kernforderungen für unser Regierungsprogramm enthält.
Die SPD darf aber nicht bei diesen Rahmenbedingungen von Arbeit stehen bleiben. Leistungsdruck, Entgrenzung von Arbeit, Arbeitsverdichtung, zunehmender Stress, zunehmende psychische Erkrankungen mit der Folge von langen Ausfallzeiten, Erwerbsminderung oder gar Arbeitsunfähigkeit zeigen, dass es höchste Zeit für ein neues Programm „Humanisierung der Arbeit“ ist. Nach 30 Jahren Kompetenzverlust, Lehrstuhl- und Stellenabbau in Wissenschaft und Forschung, sowie der interessengeleiteten Fehlorientierung nach dem Motto „Hauptsache Arbeit“ bestehen heute kaum gesicherte Erkenntnisse darüber, worin nun eigentlich der Wandel in der Arbeitswelt besteht, welche Entwicklungen zu erwarten sind, ob es verallgemeinerbare Tendenzen gibt und wie unter diesen Bedingungen Arbeits- und Gesundheitsschutz aufgezogen werden müsste.
Gleiches gilt für das Thema Qualifizierung. Während Union und Arbeitgeber an der Agenda-Argumentation festhalten, dass Qualifizierung nur auf die konkrete Anforderung eines konkreten Arbeitgebers auf einen konkreten Arbeitsplatz stattfinden kann und die aktuelle Aktivität der Jobcenter und Arbeitsagenturen auf diesen reinen Vermittlungserfolg ausgerichtet ist, führt angesichts der Umbrüche in der Arbeitswelt kein Weg an einem kompletten Strategiewechsel vorbei. Wir brauchen endlich ein Weiterbildungssystem als vierte Säule des Bildungssystems, das klaren Qualitätsvorgaben folgt, zertifiziert und systematisiert aufeinander aufbaut sowie auf dem Berufsbildungsgesetz als rechtlichem Rahmen beruht. Das „Recht auf Weiterbildung“, das jetzt im Schulz/Nahles-Papier verankert ist, darf natürlich nicht nur für Arbeitslose gelten, sondern auch für Beschäftigte. Es muss gestützt werden von Freistellungs- und Finanzierungsregelungen. Schon Ende der 90er Jahre hatten wir dazu bei Gewerkschaften und in der SPD-Bundestagsfraktion Finanzierungsmodelle auf der Basis regionaler und branchenbezogener Fonds, gestaltet von den Tarif- und Betriebsparteien, entwickelt.
Besonders schwierig, aber umso notwendiger wird die Arbeitszeitdebatte. Auch hier sind die Arbeitgeber in der Offensive und fordern Lockerung gesetzlicher Vorschriften in Richtung Flexibilisierung nach betrieblichem Bedarf auf Wochenbasis und ein Aufbrechen der Mindestruhezeiten. Stattdessen ist angesichts von Arbeitsverdichtung, Stress und zu erwartenden Produktivitätssprüngen eine gleichmäßigere Verteilung von Arbeitszeiten angesagt. Teilzeitbeschäftigte (meist Frauen) wollen länger, Vollzeitbeschäftigte kürzer arbeiten. Dies könnte auch der Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt zwischen immer mehr immer kleinerer Teilzeit (Frauen) und immer längerer Arbeitszeit bei Vollzeitbeschäftigten (Männer, mittlerweile rund 42 Stunden) entgegenwirken.
Ängste bei diesem Thema bestehen vor allem bei den Vollzeitbeschäftigten hinsichtlich der Einkommen und noch mehr Arbeitsverdichtung. Zu Unrecht wird beides als Erfahrung aus der 35-Stunden-Woche gewertet. Deshalb wird die zwingend gebotene Arbeitszeitverkürzung nur im Zusammenhang mit deutlich steigenden Löhnen und mehr betrieblicher Mitbestimmung realisierbar sein.
Die Demokratisierung der Wirtschaft gehört wieder auf die Tagesordnung. Zum einen brauchen mehr Betriebe einen Betriebsrat. Erleichterte Wahlverfahren, besserer Schutz für Beschäftigte, die das vorbereiten, Strafen für Union Busting, mehr Kompetenzen für Betriebsräte, vor allem in wirtschaftlichen Angelegenheiten und bei der Weiterbildung, sind nur einige Stichworte für den Erhalt der hochgelobten Sozialpartnerschaft in Deutschland. Auch bei der Mitbestimmung im Aufsichtsrat sind die weißen Flecken zu schließen, und die Parität muss bei 1000 Beschäftigten beginnen – nach meiner persönlichen Auffassung nach dem Montan-Mitbestimmungsmodell. Wir müssen dafür sorgen, dass die Mitbestimmung aus der Ecke der Funktionärs-Themen geholt und ihrer Bedeutung entsprechend aufgewertet wird. Das die Erfolg haben kann, konnten wir in den 60er und 70er Jahren lernen. Dies gilt jetzt umso mehr, als allenthalben große Unzufriedenheit hinsichtlich demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten herrscht. Dass unsere Antwort gerade nicht in uferlosen Volksabstimmungen als Ventil für Verdruss liegen kann, erschließt sich wohl mittlerweile von selbst.
75% der ArbeitnehmerInnen arbeiten im Dienstleistungssektor. Die moderne Industrie wandert immer mehr in die klassischen Dienstleistungszentren, wie Frankfurt, Berlin, Hamburg und München. Dort ist die Pro-Kopf-Wertschöpfung insgesamt deutlich höher als an klassischen Industriestandorten. Politisch wird die Bedeutung des Dienstleistungssektors dramatisch unterschätzt und damit am Großteil der ArbeitnehmerInnen vorbeigeredet. Dies geschieht in zweierlei Hinsicht: Industrienahe Dienstleistungen von Software über Logistik und Handel bleiben bei vielen Themen wie Forschungsförderung, Innovation, Arbeitsbedingungen ausgeblendet, obwohl sie zentrale Voraussetzungen für ökonomische Effizienz sind. Zum zweiten hängt der Alltag der Menschen immer mehr vom Funktionieren der Daseinsvorsorge im weitesten Sinn ab: Kita, Schule, Kultur, funktionierende Verkehrsinfrastruktur, Pflege, Gesundheit, Freizeit, Wohnen … Hier geht es um Lebenszeit, Lebensqualität und Verteilungsfragen. Deshalb gehört dieser Bereich auch in die Analyse und Berücksichtigung im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Kitagebühren, Mieten, Kosten des Weges zur Arbeit und zum Arzt und vieles andere haben unmittelbare Auswirkung auf den Geldbeutel und das alltägliche Zeitbudget der ArbeitnehmerInnen. Gleichzeitig sind im Großteil des Dienstleistungssektors die Arbeitsbedingungen wesentlich schlechter als in der Großindustrie.
Wer gleichwertige Lebensverhältnisse und Gleichstellung von Männern und Frauen ernsthaft anstrebt, muss die Privatisierung und Prekarisierung vieler Dienstleistungen stoppen und zurückführen. Die Probleme hier sind so vielfältig wie die Lösungsansätze. Nur ein Beispiel: Solange 1,5 Millionen ArbeitnehmerInnen bei Schwesternschaften des Roten Kreuzes und den kirchlichen Arbeitgebern soziale, pflegerische und erzieherische Arbeit leisten wie andere auch, aber kein Streikrecht, keinen Flächentarifvertrag, kein Betriebsverfassungsgesetz haben, braucht man sich über die Benachteiligung aller Beschäftigten in diesem Bereich der Frauenarbeit nicht zu wundern und zu beklagen. Die Kernaufgabe der Daseinsvorsorge gehört in öffentliche Verantwortung und in geregelte Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse.
Schließlich der Bereich der Sozialversicherungen. Die Altersvorsorge ist für viele Durchschnittsverdienende zum Angstthema geworden. Relevante Teile der Arbeitnehmerschaft glauben für sich persönlich weder an ein gesundes Erreichen der Regelaltersgrenze noch an eine lebensstandardsichernde Rente. Auch die Blütenträume über kapitalgedeckte Systeme aus seligen Riester-Zeiten sind ausgeträumt. Eine Mehrheit auch der jüngeren Beschäftigten ist bereit, einen höheren Beitrag zur gesetzlichen Rente zu bezahlen, wenn dafür die Leistung wieder stimmen würde. Deshalb kann es nur Ziel eines SPD-Regierungsprogrammes sein, das Rentenniveau möglichst schnell wieder auf mindestens 50% zu bringen und damit klipp und klar das Zeichen setzen, dass mit uns eine weitre Abkoppelung der Rente von der allgemeinen Einkommensentwicklung nicht zu machen ist. Es reicht demgegenüber nicht aus, die Probleme, die das derzeit sinkende Rentenniveau in Form von Altersarmut schafft, mit irgendwelchen Formen von Mindestrente reparieren zu wollen. Dennoch brauchen wir Hebel gezielt gegen die Altersarmut von Menschen mit Niedriglöhnen und gebrochenen Erwerbsbiografien. Das geht aber besser mit Rente nach Mindesteinkommen für Zeiten des Hartz IV-Bezuges (derzeit überhaupt nicht positiv rentenwirksam) und des Niedriglohnes. Wer sich an solche Veränderungen der Rentenformel nicht herantraut, sollte lieber aufhören, von Wert und Würde der hart arbeitenden Menschen zu sprechen. Auch sollten wir den Mut haben, schrittweise die Erwerbstätigenversicherung zur Altersvorsorge einzuführen. Dies wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen, vor allem wegen des notwendigen Vertrauensschutzes für bereits Versicherte in anderen Systemen. Alle Berufsanfänger von Selbständigen aller Art einschließlich Managern, politischen Mandatsträgern und BeamtInnen gehören in ein solches System, damit auch hier Solidarität und Lebensstandardsicherung statt Prekarität und Spaltung einkehren.
Martin Schulz hat mit Recht wieder die Parität bei den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung gefordert. Die Arbeitnehmer müssen von den Zusatzbeiträgen entlastet und dürfen bei künftigen Beitragssatzsteigerungen nicht allein gelassen werden. Um das System zukunftsfähig zu machen, bedarf es auch hier in Form der Bürgerversicherung einer solidarischen Finanzierung ohne Klassen- und Kassenunterschiede und ohne die derzeit viel zu hohen Zuzahlungen.
Die gestiegene Ungleichheit bremst, zusammen mit einer fehlgeleiteten Haushaltspolitik der schwarzen Null, auf mehrfache Weise Investitionen und Innovationen. Zunächst führt der enorme Leistungsbilanzüberschuss mit der jahrelang zurückgebliebenen Binnenkonjunktur eher zu Investitionen im Ausland als in Deutschland. Trotz geradezu idealer Investitionsbedingungen mit Niedrigzins, hohen Gewinnen und einer schwachen Lohnstückkosten- und Rohstoffpreisentwicklung verharren die privaten Investitionen auf Krisenniveau. Bei genauerer Betrachtung handeln aber die Unternehmen logisch: Für Innovation und Produktivitätssteigerungen bieten die niedrigen Löhne auf der Kostenseite kaum Anreize und auf der Nachfrageseite fehlt es an Kaufkraft der ArbeitnehmerInnen und RentnerInnen. Gleiches gilt für das Verhalten der öffentlichen Haushalte, die weder ihre konsumtiven Ausgaben (z.B. für Personal) noch ihre Investitionen ausreichend erhöhen. Im Gegenteil: Deutschlands Ausgaben für den öffentlichen Dienst und für öffentliche Investitionen liegen unter den Industrieländern ganz weit hinten in der Tabelle. Vielfach finden Investitionen nicht statt, weil es auf allen staatlichen Ebenen an Planungs- und Umsetzungskapazitäten fehlt.
Deshalb brauchen wir massive Ausweitungen der öffentlichen Investitionen. Allein bei den Kommunen fehlen 136 Mrd., bei der Verkehrsinfrastruktur 35 Mrd., bei der energetischen Gebäudesanierung 75 Mrd. €. Seit 2003 schreiben die Kommunen in Deutschland mehr ab als das, was investiert wird. Gleichzeitig fehlen auch noch rund eine Million bezahlbare Wohnungen. Unser Investitionsbegriff muss jedoch weit über Stahl und Beton hinausgehen. Geradezu klassisches Negativbeispiel, aus dem man viel lernen kann, ist die Elektromobilität. Es hilft eben nichts, massive Zuschüsse zum Kauf von E-Fahrzeugen zu gewähren, wenn gleichzeitig die Stromtankstellen und Nutzungskonzepte fehlen. Da braucht es politisch induzierte Mobilitätsstrategien von Bund, Ländern und Kommunen, die entsprechende Infrastrukturen und Dienstleistungen anbieten, um verschiedene Verkehrsträger zu verknüpfen, wenn ohnehin viele Menschen bereit sind auf ein eigenes Fahrzeug zu verzichten. Einmal mehr hat sich hier erwiesen, dass trotz hochkarätig besetzter Kommissionen aus der Wirtschaft, vor allem der beteiligten Branchen, keine konkreten Umsetzungen erfolgt sind. So etwas wird bei uns mit Schweigen übergangen, um anschließend staatlichen Dirigismus zu beklagen.
Über Steuerkonzepte diskutiert die SPD an vielen Stellen. Aus Sicht der ArbeitnehmerInnen sind die Kernbotschaften: Arbeit kann nicht höher besteuert werden als Kapitalerträge jeglicher Art; Hände weg von den Sozialversicherungsbeiträgen, wenn es um Entlastungen im unteren Bereich geht (brandgefährlich), weil es z. B. bei Arbeitslosen- und Rentenversicherung auch um Leistungsansprüche geht und weil jegliche „Entlastungen“ zur Verfestigung des Niedriglohnsektors nach dem Kombilohnmodell führen, frei nach dem Motto: warum einen höheren Lohn zahlen, wenn netto nicht mehr beim Beschäftigten ankommt); Abflachung der Progression im Eingangsbereich, die vollständig durch die Spitzeneinkommen gegenfinanziert werden muss; Einführung der Finanztransaktionssteuer und Wiedererhebung der Vermögenssteuer, sowie eine in sich abgestimmte Neukonzipierung des Dreiecks Minijob; Individualbesteuerung statt Ehegattensplitting, Familienmitversicherung in der Krankenversicherung mit dem Ziel, dass bei ordentlichen Erwerbseinkommen keine Nachteile mehr entstehen, wenn beide PartnerInnen arbeiten. Unter dem Strich muss das Steuerkonzept so gestrickt sein, dass die zuvor genannten öffentlichen Aufgaben eines handlungsfähigen Staates auf jeder Ebene erfüllt werden können.
An der Steuerpolitik zeigt sich besonders deutlich, dass die öffentlichen Hände in allen Sozialstaaten an Durchsetzungsfähigkeit gewinnen müssen, wenn ein Mindestmaß an Gerechtigkeit durchgesetzt werden soll. Nur international agierende Unternehmen und Kapitalbesitzende können sich derzeit – teilweise ganz legal – einer angemessenen Besteuerung entziehen, während sich KMUs, ArbeitnehmerInnen und VerbraucherInnen der vollen Wucht der Besteuerung ausgesetzt sehen. Sinngemäß gilt dies für andere Dumpingprozesse auch, nämlich im Sozial- und Lohnbereich. Die Europäische Union droht, gerade jetzt unter der Führung einer neoliberal und konservativ dominierten Kommission, zu einer militarisierten Freihandelszone reduziert zu werden. Das vielzitierte europäische Sozialmodell verkam gleichzeitig zur leeren Worthülse. Die als Krisenlösung propagierte Austeritätspolitik der „Troika“ (die nicht mehr so heißt) unter maßgeblicher Beteiligung der Kommission und des IWF stellt nichts anderes als einen Schlag ins Gesicht von Arbeit, Gerechtigkeit und der Zukunftschancen der jüngeren Generation dar. Neben einem groß angelegten öffentlichen Investitionsprogramm, das weit über den Junker-Plan hinausgeht und auf private Investoren verzichtet, einem sofortigen Stopp der Kürzungen bei Sozialleistungen und Löhnen, der Durchsetzung von Mindeststandards bei der Ausbildung und Beschäftigung junger Menschen, Renten und allen Lohnersatzleistungen, bei Mindestlöhnen, Mitbestimmung und Gewerkschaftsrechten, der Durchsetzung des Prinzips von gleichem Lohn bei gleicher Arbeit am gleichen Ort bedarf es einer Neukonzipierung der Handelspolitik nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten sowie verbindlichen Regeln. Auf keinen Fall darf sich die EU auf eine neue Umdrehung bei der Rüstungsspirale einlassen. Der angedrohte Rückzug der USA aus Europa bedeutet keinen Zwang zu europäischer Aufrüstung, schon gleich gar nicht in Richtung des 2 %-Ziels bei den Ausgaben, sondern eine Chance zu echter atomarer und konventioneller Abrüstung.
Mit einem schlüssigen und zugkräftigen Regierungsprogramm ist es aber für die SPD nicht getan. Um Vertrauen, Glaubwürdigkeit und innerparteiliche Kommunikation über den Wahltag hinaus wieder herzustellen, bedarf es der Wiederbelebung und Reformierung der Beziehungen in den ArbeitnehmerInnenbereich. Martin Schulz hat hier sehr positive Zeichen gesetzt, um die innerparteiliche Abkoppelung der Arbeitsgemeinschaften zu korrigieren. Wer für sich beansprucht, Arbeitnehmerinteressen wahrzunehmen, sollte in der SPD einen inhaltlich-organisatorischen Dreiklang versuchen: erstens die „Arbeit“ als zentrales Thema in den inhaltlichen Diskurs der Partei zurückzuholen, zweitens Organisations- und Bewegungsformen entwickeln, die über die wohnortbezogene Parteiorganisation hinaus wieder Arbeitsformate (Betriebs-/Branchen-/Personengruppen) mit Arbeitsortbezug schaffen, und drittens die AfA als Betriebsorganisation der SPD angemessen auszustatten und ihr entsprechendes politisches Gewicht verleihen. Die Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte werden – diesseits der Spitzenebene – in den Landes-, Bezirks und Unterbezirksebenen – die SPD nur dann wieder als Ansprechpartner ernst nehmen, wenn sie selbst dort wieder über die AfA als dauerhafte Struktur ernst genommen werden. Hier sind konkurrierende Parteien links und rechts von uns inzwischen ein ganzes Stück voraus. Unsere Kampagnenfähigkeit entscheidet sich nicht nur an Infoständen und Haustüren, sondern gerade auch am Ort des Geschehens, wenn wir es mit unserer Kernkompetenz „Arbeit“ ernst nehmen.
„Zeit für mehr Gerechtigkeit“ hat große Hoffnungen und Erwartungen geweckt und die SPD überhaupt wieder ins politische Geschehen als große Volkspartei zurückgeholt. Daraus muss eine in sich schlüssige, halbwegs widerspruchsfreie Erzählung entwickelt werden. Zu dieser Erzählung gehört auch die Wirtschaftspolitik, eine vernünftige Unternehmerschaft, die HandwerkerInnen, Selbständigen und Freiberufler. Sie können davon überzeugt werden, dass eine gespaltene, verdrossene, aggressive Gesellschaft, ein abgemagerter Staat, eine ungeregelte Weltmarktkonkurrenz, Fachkräftemangel und demotivierte und dauergestresste Beschäftigte, Abschottung nach außen und mangelnde Integration nicht gut für die eigenen Geschäfte sind. Je mehr wir dabei auf die eigene Meinungsführerschaft setzen können, desto weniger brauchen wir über Koalitionen und Einzelpersonen sprechen.